Regen bringt Segen
Kategorie Gastblock
Heute Morgen lief ich bei strömendem Regen die vertrauten Waldwege. Sie waren unter dem herabgefallenen Laub kaum zu erkennen. Mit den Gräben an der Seite bildeten sie eine Einheit, denn in den Gräben hatte sich das vom Wind verwehte Laub gesammelt und diese aufgefüllt. Mit Kapuze über dem Kopf war die Sicht stark eingeschränkt. Ich konzentrierte mich auf die Steine auf dem Weg. Der Regen hatte die Wege ausgewaschen, und viele Steine, die gestern noch unter der Erde lagen, ragten heute spitz nach draußen.
Dadurch, dass ich nur nach unten schaute, und die weit ins Gesicht reichende Kapuze mir die Seitensicht versperrte, sah ich nur die kleine Fläche vor meinen Füßen. Diese liefen vorwärts ohne meine Steuerung. Sie liefen ständig vom Wege ab, ich merkte es daran, dass es unter meinen Füßen weicher wurde und konnte rechtzeitig reagieren. Dazu musste ich aber stehenbleiben, um nach vorne zu schauen und die Umrisse des Weges zu erkennen.
Durch die intensive Konzentration auf den Boden war mein Kopf relativ frei von Gedanken. Auch meine Nachbarin lief stumm und konzentriert neben mir her.
In dieser inneren Leere kamen die Gedanken aus der Stille: Verhält es sich mit meinem Lebensweg nicht ähnlich? Wie oft bin ich von meinem Weg abgekommen, und es geschieht immer noch, weil ich mich auf alltägliche Dinge konzentriere. Wenn ich dann nicht stehenbleibe, das heißt, mir bewusst Zeit nehme, verirre ich mich immer mehr, ohne es zu merken, in Dingen, die nicht gut sind für die freie Entwicklung meiner Seele. Es wird, je länger es dauert, mehr und mehr eine Ver-wicklung. Diese neuen, trügerischen Lebensmuster wieder zu ent-wickeln verbraucht sehr viel Energie und viel Geduld und ständiges Bemühen. Als ich auf dem Waldweg vom Weg abkam, wurde ich gewarnt, indem die Bodenbeschaffenheit unter meinen Füßen sich weicher anfühlte. Auf meinem inneren Weg warnt meine Seele mich. Mit Müdigkeit, Erschöpfung und Schlaflosigkeit bis hin zu einer Erkrankung, weil meine Lebensenergien unnütz verbraucht werden.
Auch eine innere Sehnsucht nach der Stille ist da. Dann möchte ich frei sein. Frei von allen Verpflichtungen und Ehrenämtern. Manchmal sogar von Menschen, die mir nahe stehen, obwohl ich sie über alles liebe. Ich möchte frei sein für mich und eintauchen in meine Seele. Denn die Zeit wird knapp, da ist noch viel zu lernen und zu tun, damit die Seele glücklich ist, und ich es auch bin. Auf meinem rechten Weg fühle ich mich wie von einer Saugglocke gesogen zu dem, was ich wirklich will.
Wenn die Sehnsucht mich treibt, wenn sie zur Sucht wird, dann geht es mir gut. Dann kann ich manchmal einen Lichtschimmer sehen, der mir sagt, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ich darf dann am Rand zur Ewigkeit stehen und eine Ahnen vom großen Licht haben. Das ist Wegzehrung für die Sehnsucht der Seele. Wegzehrung für mich auf meinem Weg.
„Regen bringt Segen.“ Heute hat er mir Segen gebracht. Danke, lieber Regen!